Joseph Roth
1 | HIOB
Schauspiel. In einer Fassung von Tanja Weidner.
Premiere | 9. September 2023
Vorstellungsdauer | 2h40 | Eine Pause
© Laura Ritter | Klaus Lefebvre
Mendel Singer, gottesfürchtiger Lehrer jüdischen Glaubens, lebt um das Jahr 1900 mit seiner Familie in einem abgeschiedenen Dorf in Ostgalizien, damals noch im russischen Reich. Seine Frau Deborah und die Kinder Jonas, Schemarjah und Mirjam führen ein einfaches und hartes Leben, das Mendel demütig vor Gott stoisch erträgt. Doch er wird hart geprüft: Sein dritter Sohn Menuchim kommt behindert zur Welt und es beginnt eine Odyssee. Die Familie wandert nach New York aus, muss den kranken Menuchim aber zurücklassen. Die Migration nach Amerika, Entwurzelung, Schuldgefühle, Tod und Verlust zeichnen Mendels Weg und den seiner Familie, die wie verflucht zu sein scheint. Einen Sohn verliert er im Krieg, der andere desertiert, seine Tochter wird wahnsinnig, die Frau stirbt. Aller Hoffnungen beraubt löst sich Mendel vom einzigen, der ihm geblieben ist: seinem Gott. Und erfährt ein Wunder . .
Eine Familiensaga nach biblischem Vorbild und die Suche nach der eigenen Identität und der Sinnhaftigkeit des Lebens. Berührend, poetisch und zeitlos.
Joseph Roth (1894-1939) stammte selbst aus Ostgalizien, ehe er nach Wien und nach der Machtergreifung der Nazis schließlich nach Paris emigrierte. Nach zahlreichen Schicksalsschlägen verfiel er dem Alkoholismus und starb jung in einem Armenhospital. Den Roman HIOB schrieb Roth in einer bildhaften, fast märchenhaften Sprache. Für das WBT erstellt Chefdramaturgin Tanja Weidner eine eigene Schauspielfassung.
Inszenierung | Tanja Weidner
Bühne, Kostüme & Puppenbau | Annette Wolf
Dramaturgie | Edina Hojas
Mit | Florian Bender | Gregor Eckert | Katharina Hannappel | Niclas Kunder | Ivana Langmajer | Jürgen Lorenzen
Trailer
Pressestimmen
HIOB, die Schauspielfassung des gleichnamigen Romans von Joseph Roth aus dem Jahr 1930 ging am vergangenen Wochenende im Wolfgang Borchert Theater in Münster unter der Regie von Tanja Weidner über die Bühne. Mit diesem großartig umgesetzten HIOB ist das WBT in seine neue Spielzeit gestartet. Die Messlatte für die folgenden Inszenierungen liegt ab jetzt besonders hoch.
Chefdramaturgin Tanja Weidner hat die Geschichte des HIOB von Joseph Roth bearbeitet, theatralisch zugespitzt und findet für die Nacherzählung des Romans starke Bilder und dramatische Szenen, die unter die Haut gehen. […]
Mendel Singer, gottesfürchtiger Lehrer jüdischen Glaubens, (einfühlsam und bis ins Detail überzeugend von Jürgen Lorenzen verkörpert) lebt um das Jahr 1900 mit seiner Familie in einem abgeschiedenen Dorf in Ostgalizien, in einem Schtetl namens Zuchnow, nahe der russisch-polnischen Grenze – damals noch Teil des russischen Reiches. Politische Wirren und der Krieg deuten sich im Hintergrund bereits an. […] Die Familie, Frau Deborah (wunderbar gespielt von Ivana Langmajer) und die Kinder Jonas (Alessandro Scheuerer), Schemarjah (Florian Bender) und Mirjam (Rosana Cleve) führen ein einfaches und hartes Leben, das Mendel vor Gott demütig und ohne Widerspruch stoisch erträgt. Doch er wird hart geprüft: Sein dritter Sohn Menuchim kommt behindert zur Welt und damit beginnt eine Odyssee der Familie. […]
Chefdramaturgin Tanja Weidner gelingt es mit ihrer klugen Inszenierung eine überzeugende Brücke der ursprünglich märchenhaft angelegten Familiensaga in unsere Gegenwart zu schlagen.
Mehrere eingespielte Videointerviews mit emotionalen Statements von Geflüchteten aus der Ukraine (mit deutschen Zwischentiteln übersetzt) unterstreichen schmerzhaft wie Vertreibung und Flucht, Entwurzelung und Heimatlosigkeit in der heutigen Wirklichkeit erlebt werden. Ihnen ist nichts mehr geblieben als das nackte Leben. Im Unterschied zu Mendel Singer, der am Ende seines von zahlreichen Schicksalsschlägen bestimmten Lebens gewissermaßen ein Wunder erlebt, können die Geflüchteten aus der Ukraine, aus Syrien und Afghanistan nur darauf hoffen, dass der Krieg in ihrer Heimat irgendwann einmal zu Ende geht. […]
Die Inszenierung überzeugt durch ein abstraktes, sehr wirkungsvolles Bühnenbild, das mit wenigen aber starken Requisiten auskommt. Um eine einfache Sitzbank spielt sich im ersten Teil das komplette Familienleben der Singers ab. Sie ist Tisch und Bett in einem. Hier wird geschlafen, gegessen, geliebt, gebetet und geboren. Im zweiten Teil reicht ein geschwungener Perlenvorhang, der sich über die ganze Bühne spannt, das moderne Leben in Amerika zu visualisieren. Mal dient er als Kulisse für das mondäne Warenhaus, dann als Heim und schließlich sogar als Tanzsaal. Für dieses Design ist einmal mehr Annette Wolf verantwortlich, die auch die Kostüme entworfen und die bleiche Gliederpuppe gestaltet hat, mit der der kleine Menuchim dargestellt wird. Annette Wolf hat einmal mehr bewiesen zu was sie fähig ist. Bravo!
Das überaus spielfreudige Ensemble des WBT ist mit HIOB aus der Sommerpause zurück und setzt mit überzeugenden Schauspielerleistungen ein starkes Zeichen. Großartig besetzt sind die Hauptrollen: Jürgen Lorenzen, Ivana Langmajer und nicht zuletzt Rosana Cleve. [...] Die Erfolgsgeschichte des Borchert Theaters setzt sich mit HIOB nahtlos fort.
Die Premiere von HIOB nach dem Roman von Joseph Roth war ein emotionaler, tief bewegender Theaterabend, der in seinem zeitlosen, existenzialistischen Grundton noch lange nachhallt. Sehenswert! [Westfalium]Ehre, wem Ehre gebührt: Obwohl beides nicht ganz zu trennen ist, ist hier erst einmal nicht die Regisseurin Tanja Weidner hervorzuheben, sondern Weidners Leistung bei der Dramatisierung von Joseph Roths Hiob. Weidner geht ungemein sensibel vor und deshalb gelingt es ihr, nicht nur Figuren in Dialogen perfekt zu charakterisieren. Sie beschwört auch die Stimmung herauf, die Roths Roman innewohnt: Eine leise Melancholie zu Beginn, deren destruktiver Kern immer mehr Raum gewinnt.
Roth erzählt die Geschichte des Thora-Lehrers Mendel, der arm, aber gottesfürchtig in einem kleinen russischen Dorf lebt. Gott prüft ihn, er verliert nach und nach seine Kinder und seine Frau, ehe er nach vielen Jahren seinen verlorenen Sohn Menuchim wiedertrifft. Gott belohnt ihn für seine Leidensfähigkeit und sein Gottvertrauen. Eine klassische Hiob-Geschichte also? Darauf setzt Tanja Weidner ihren Schwerpunkt nicht. Sie transportiert einen anderen Strang des Inhalts: Wie reagieren Menschen auf Flucht und ihr Versetztwerden in eine völlig fremde Umgebung, die sie fordert und Anpassungsstrategien verlangt?
Mendel Singer ist durchaus bereit, seine Lebenssituation in den USA zu verbessern und dafür auch den behinderten Sohn Menuchim zurückzulassen. Weidner kontrastiert das Bühnengeschehen mit Video-Interviews ukrainischer Flüchtlinge, deren Ausgangssituation eine gänzlich andere ist. Aber ihre Erfahrungen und Schwierigkeiten mit dem Einleben in eine völlig neue Lebenswelt korrespondieren mit denen Mendels. Das Ziehen dieser Parallelen, aber auch Unterschiede zu benennen, ist Dreh- und Angelpunkt von Weidners Inszenierung.
Dazu gelingt es ihr, Mendel Singers Familiensituation in ganz besonders intimer Art und Weise herauszuarbeiten: Der an Epilepsie erkrankte Menuchim ist eine einfache Gliederpuppe, deren weißer Kopf sich mit einem Holzknopf bewegen lässt. Den bewegen seine Geschwister und leihen ihm auch ihre Stimme für das einzige Wort, dass er beherrscht: „Mama“. Sie hassen und lieben Menuchim zugleich und finden im Spiel mit der Puppe auch einen Weg, ihre Sehnsucht nach Anerkennung durch ihre Eltern auszudrücken - ihren Platz in der Familie zu finden.
Weidners Mendel ist kein wirklicher Hiob. Zu schnell äußert er Zweifel an seinem Gott, verliert seinen Glauben. Den findet er auch nicht wieder, als er den verloren geglaubten Sohn in die Arme schließt. Jürgen Lorenzen verkörpert ihn mit jeder Faser glaubwürdig. Dringt in diesen Charakter ein und liefert eine bewundernswerte Studie. Das ist ganz großartig!
Ivana Langmajer ist Deborah, Mendels Frau. Sie scheuert klaglos Böden in Russland. In Amerika erblüht sie zu einer selbstbewussten Frau, um am Ende ganz jüdisch durch Haare ausreißen ihre toten Söhne zu betrauern und dann zu sterben. Langmajer gestaltet eindrücklich und prägend. Das tun auch ihre Kinder - verlorene Seelen allesamt, die vergebens um einen Platz im Leben ringen. Florian Bender, Rosana Cleve und Alessandro Scheuerer spielen irrlichternd und verzweifelnd die Suche nach sich selbst. Gregor Eckert übernimmt sehr souverän die kleinen Rollen, denen er Individualität zu verleihen versteht.
Alle agieren in Annette Wolfs sinnfälliger Bühne, die durch Säulen beherrscht wird - naturfaserig-bröckelnden in Russland, glänzend-massiven in Amerika. Catharina Volbers‘ Klarinette gibt dem Geschehen Atmosphäre und kommentiert die Handlung leise, aber bisweilen auch klagend-aufschreiend.
Tanja Weidner gelingt eine berührende Dramatisierung von Joseph Roths Hiob, die lange nachklingt. Das ist sicher keine für das Wolfgang-Borchert-Theater typische Produktion, deren Mut aber viele Zuschauer*innen verdient, denn die zukünftige Intendantin hat wieder einmal ihr ungemein feines Gespür für „bühnenreife“ belletristische Texte unter Beweis gestellt. [theaterpur]